Zellen mit Minimalgenom
Um biologische Systeme zu entwerfen und zu konstruieren, wollen einige Bioingenieure zunächst die komplexe Natur von Zellen vereinfachen. Sie halten es für notwendig, existierende Organismen in ihrer genetischen Ausstattung auf ein lebensnotwendiges Minimum zu reduzieren.
Wie sieht die minimale genetische Ausstattung aus, die eine Zelle zum Überleben benötigt? Mit dieser elementaren Frage beschäftigen sich Forscher in der Synthetischen Biologie, die der Strategie des Top-down-Ansatzes folgen. Interessant ist sie aus zweierlei Dingen: Einerseits helfen Zellen mit Minimalgenomen dabei, das Leben und seine komplexe Vielfalt überhaupt zu verstehen. Anderseits werden solche Zellen auch dafür genutzt, maßgeschneiderte industrielle Produkte wie Chemikalien, Medikamente oder Biosprit herzustellen (zu Anwendung).
Die genetische Ausstattung reduzieren
Am Anfang steht die Beobachtung, das Organismen in ihrem Erbgut nach Milliarden Jahren der Evolution eine komplexe Vielfalt an genetischen Elementen angehäuft haben. Da die natürliche Entwicklung nicht geradlinig verlief, sind im genetischen Bauplan und im Stoffwechsel der Organismen viele Redundanzen entstanden oder Teile des Programms sind inaktiv. Manche Forscher der Synthetischen Biologie wollen diese Komplexität nun systematisch reduzieren und die Stoffwechselprozesse vereinfachen: Sie ermitteln verzichtbare DNA-Abschnitte im Erbgut von Zellen und entfernen diese. Ziel ist es, die Genomgröße auf das Mindestmaß zu reduzieren – gerade soweit, dass ein Überleben unter Laborbedingungen gerade noch möglich ist. Zellen, die mit einem derart komprimierten Minimalgenom überlebensfähig sind, werden als Minimalzellen bezeichnet. Für ihre Arbeit nutzen die Forscher zahlreiche molekularbiologische Instrumente, mit denen sich DNA und Genome herstellen sowie Zellen programmieren lassen.
Zellen mit Minimalgenom
In den letzten Jahren wurden hier bereits beachtliche Fortschritte erzielt. Ein US-Forscherteam um den Genom-Pionier Craig Venter und Hamilton Smith vom J. Craig Venter Institute verfolgt den Minimalgenom-Ansatz bisher am konsequentesten. Dazu haben die Kalifornier relativ einfach gebaute Bakterien, die Mykoplasmen, als Studienobjekte ausgewählt. Der Vorteil: diese Mikroben besitzen nur einige hundert Gene. Die Forscher haben zunächst jedes der rund 480 Gene von Mycoplasma genitalium einzeln ausgeschaltet und auf diese Weise überprüft, welches für das Überleben der Mikroben absolut lebensnotwendig ist.
Die Forscher gehen davon aus, dass sich das Genrepertoire auf weniger als 400 Gene verkleinern lässt (Glass et al. PNAS 2005). In einem nächsten Schritt will Venters Team nun ein minimales Genom im Labor chemisch synthetisieren (zu DNA und Genome herstellen), um eine Zelle damit umzuprogrammieren. Dass dies technisch prinzipiell machbar ist, haben die Forscher bereits demonstriert. 2010 haben sie das komplette Genom von Mycoplasma mycoides rein chemisch im Labor synthetisiert, nahezu fehlerfrei zusammengesetzt und den nachgebauten DNA-Strang in eine speziell vorbereitete, genomfreie Mykoplasmen-Zelle eingesetzt (Gibson et al., Science 2010). Die Erbgut-Transplantation funktionierte: Die Zellen teilten sich daraufhin und lebten mit ihrem neuen Designer-Genom weiter. Gleichwohl war dieser Meilenstein der Synthetischen Biologie ein technologischer und finanzieller Kraftakt, in dem 15 Jahre Forschungsarbeit steckten.
Minimalzelle als Produktions-Plattform
Mit weiteren Fortschritten auf dem Weg zu Minimalzellen ist in den nächsten Jahren zu rechnen. Denn Molekularbiologen verfügen heute mit neuartigen Designer-Nukleasen über ganz neue gentechnische Werkzeuge des Genome Editing, mit denen sich in lebenden Organismen mehrere Gene gezielt ausschalten lassen. Hinzu kommen bessere Einblicke in komplexe Stoffwechsel-Netzwerke von Bakterien oder Zellen – eine wichtige Vorraussetzung, um Zellen mit Minimalgenom als Chassis für eine effiziente, industrielle Produktion zu nutzen. Indem Forscher genetische Redundanzen beseitigen, reduzieren sie den Energieaufwand von Zellen – gewünschte Stoffwechselprodukte werden so ressourcenschonender hergestellt.
Um hier den Durchblick zu behalten, kommen sehr häufig Instrumente der Systembiologie und der Bioinformatik zum Einsatz. Sie helfen zu verstehen, wie die Vielzahl an Stoffwechselprodukten miteinander wechselwirken, wie sie sich entflechten und vereinfachen lassen. So werden komplexe Produktionsstraßen – also mehrstufige Biosynthesewege – zunehmend am Computer entworfen. Zudem lassen sich durch neue Möglichkeiten des Code Engineering völlig neuartige Biomoleküle biochemisch konstruieren. Erkenntnisse aus diesen Forschungsgebieten werden künftig auch dazu beitragen, die Entwicklung von Zellen mit Minimalgenom voranzutreiben.
Klar ist aber auch: Obwohl solche Zellen das Ergebnis moderner Genom-Ingenieurskunst sind, so bestehen sie doch in der Mehrheit aus bekannten Bausteinen und den Konstruktionsprinzipien der Natur. Die meisten Naturwissenschaftler sind sich daher weitgehend einig, dass auf diese Weise keine künstlichen Lebensformen geschaffen werden. Die Perspektive der Sozial- und Ethikwissenschaften ist hierzu weniger eindeutig: Ab wann das Leben als Leben betrachtet werden kann und wie sich die Erkenntnisse zum Minimalgenom einordnen lassen, ist Gegenstand vielfältiger Diskussionen (zu Ethik & Recht).